Autismus wurde lange Zeit als Thema angesehen, das hauptsächlich Männer betrifft. Diese Ansicht spiegelt sich auch in der Forschung und den Diagnosekriterien wider. Selbst heute wird Autismus bei Mädchen und Frauen häufig übersehen oder erst im späteren Leben diagnostiziert. Dieser Artikel beleuchtet die einzigartigen Herausforderungen, mit denen Frauen mit Autismus konfrontiert sind, und zeigt Möglichkeiten auf, wie Diagnose und Verständnis verbessert werden können.
Autismus bei Frauen: Ein Überblick
Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die sich durch Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, Kommunikation sowie durch eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensweisen auszeichnet. Die Symptome und Schweregrade von Autismus können stark variieren, weshalb von Autismus-Spektrum-Störungen gesprochen wird. Früher wurde Autismus bei Männern doppelt bis viermal so häufig diagnostiziert wie bei Frauen. Heutzutage wird jedoch angenommen, dass Autismus bei Mädchen und Frauen stark unterdiagnostiziert wird.

Probleme einer späten Autismus-Diagnose
Wird Autismus nicht erkannt, kann dies bei den Betroffenen starkes Leid verursachen. Viele Frauen, die erst im Erwachsenenalter diagnostiziert wurden, berichten über ein konstantes Gefühl von Überforderung und Verwirrung. Sie fühlten sich schon in jungen Jahren anders und ausgeschlossen und hatten oft das Gefühl, niemals gut genug zu sein, obwohl sie große Anstrengungen unternahmen, sich anzupassen. Dies kann zu negativen Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Identität sowie zu psychischen Problemen wie Depressionen führen. Undiagnostizierte Mädchen erhalten nicht die Unterstützung und Förderung, die ihnen helfen könnten, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Werden Mädchen diagnostiziert, scheint dies zu einer besseren kognitiven Entwicklung und einer Verringerung der Symptome zu führen.
Warum wird Autismus bei Frauen erst spät erkannt?
1. Maskierung und Anpassung
Mädchen und Frauen mit Autismus neigen dazu, ihre Symptome besser zu kaschieren als Männer. Sie unternehmen häufig große Mühen, sich Erwartungen der Umwelt anzupassen und ihre Schwierigkeiten zu verbergen. Mädchen mit Autismus schauen sich beispielsweise Verhaltensweisen ihrer neurotypischen Altersgenossinnen ab und imitieren diese. Sie lernen zu „maskieren“, wie unangenehm sie Blickkontakt erleben oder wie verwirrend eine soziale Situation gerade für sie ist. Durch diese Anpassung werden Symptome bei Mädchen oft nicht erkannt und die Notwendigkeit einer diagnostischen Abklärung nicht gesehen.
Die soziale Anpassung wird in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter immer schwieriger. Soziale Interaktionen werden komplexer, z.B. Partnerschaften oder im Berufsalltag. Auch geschlechtsspezifische Rollenerwartungen und gesellschaftliche Normen erzeugen für jugendliche und erwachsene Frauen einen höheren Druck und intensivere Anpassungsanforderungen. Dies führt häufig zu starker Belastung für die Betroffenen.
2. Soziale Normen
Gesellschaftliche Erwartungen an Mädchen und Fauen können dazu führen, dass bestimmte Verhaltensweisen nicht als potenzielle Anzeichen für Autismus erkannt werden.
Rollenbilder von „ruhigen“ Mädchen und „wilden“ Jungen sind immer noch stark in unserer Gesellschaft verankert. Mädchen wird durch das Umfeld früh beigebracht, sich anzupassen und möglichst nicht aufzufallen. Mangelnder Blickkontakt wird zum Beispiel als Schüchternheit interpretiert, weil das zu dem Rollenbild von Mädchen passt. Das häufig von autistischen Mädchen gezeigte eher zurückgezogene, ruhige und kontrollierte Verhalten entspricht der gesellschaftlichen Rollenerwartung als still, brav und bescheiden. Auch Spezialinteressen werden oft nicht als solche gesehen, wenn sie stereotypen weiblichen Interessen entsprechen.
3. Männlicher Forschungsfokus
Die meisten diagnostischen Methoden basieren auf Forschung zu männlichen Autisten.
Erst in den letzten Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft überhaupt mit Autismus bei Mädchen und Frauen. Daher sind die meisten diagnostischen Methoden nicht darauf ausgelegt, Autismus bei Frauen und Mädchen zu identifizieren. Die gängigen diagnostischen Instrumente wurden an Populationen männlicher Autisten standardisiert.
4. Überlagerung durch Komorbiditäten
Die Anstrengungen, in einer neurotypischen Welt zu leben, führen oft zu psychischen Problemen bei autistischen Menschen. Es wird geschätzt, dass zwischen 65 und 95 Prozent der autistischen Menschen an einer komorbiden psychischen Erkrankung leiden. Die häufigsten Komorbiditäten sind Angststörungen, Depressionen und ADHS.
Wenn undiagnostizierte Frauen professionelle Hilfe aufgrund ihrer psychischen Belastung aufsuchen, wird ihr Autismus häufig übersehen. Viele autistische Frauen werden viele Jahre für Depressionen oder Angststörungen behandelt, die als typischer für Frauen gelten, bevor sie die Autismus-Diagnose erhalten.
Untypisch atypisch – Worauf ist bei der Diagnose von Autismus bei Frauen zu achten?
Nachdem Symptome hauptsächlich an männlichen Autisten untersucht wurden, werden Symptomausprägungen bei Mädchen und Frauen oft nicht als solche wahrgenommen. Die Symptome sind häufig subtiler und werden besser verborgen.
Es ist wichtig zu betonen, dass Autismus ein breites Spektrum von Merkmalen umfasst und sich bei jedem Individuum unterschiedlich manifestieren kann, unabhängig von Geschlecht oder Geschlechtsidentität. Dennoch ist es entscheidend, die Unterschiede im Auftreten von Autismus bei Mädchen und Frauen zu verstehen, um eine frühzeitige und angemessene Unterstützung und Intervention zu ermöglichen.
Worauf ist also bei der Diagnostik von Autismus bei Mädchen und Frauen zu achten?
1. Soziale Anpassung und Camouflage
Mädchen und Frauen mit Autismus zeigen oft bessere oberflächliche soziale Anpassung als männliche Autisten. Sie entwickeln oft Strategien um soziale Situationen besser zu navigieren. Viele Mädchen und Frauen beobachten andere Menschen sehr genau, um soziale Interaktionen zu analysieren und nachzuahmen und sich so besser den gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen. Einige berichten beispielsweise Mimik, Gestik und Verhalten in sozialen Situationen anhand von Videos genau zu studieren und vor dem Spiegel einzuüben. Die eigenen Autismus-Symptome zu verbergen und sozial erwünschtes Verhalten zu mimen erfordert wahnsinnig viel Energie und wird als sehr belastend erlebt.
Für die Diagnose von Autismus ist es also wichtig, hinter die Maskierung zu blicken. Mussten die sozialen Fertigkeiten mühsam erarbeitet werden? Wie anstrengend ist es, die Camouflage konstant aufrecht zu erhalten? Es ist zu beachten, dass die soziale Anpassung und das mimen neurotypischer Verhaltensweisen nicht immer ein bewusster Prozess ist. Es ist für Betroffene oft nicht einfach, zu beschreiben, ob und wie die Nachahmung und das Tarnen abläuft.
2. „Unauffällige“ Spezialinteressen
Eines der typisches Anzeichen für Autismus ist die intensive Beschäftigung mit Spezialinteressen. Die Spezialinteressen von Mädchen und Frauen sind häufig gesellschaftsfähiger als die von männlichen Autisten. Oft sind es Themen, die den weiblichen Rollenerwartungen entsprechen wie Tiere, Filme oder Stoffe. Nachdem die Spezialgebiete als „normal“ angesehen werden, fällt oft nicht auf, dass das Ausmaß der Beschäftigung über ein einfaches Hobby hinausgeht.
Die klassischen Diagnoseverfahren berücksichtigen meist nur stereotyp männliche Spezialinteressen wie Technik oder Autos, typisch weibliche Interessen werden gar nicht abgefragt. Um ein Spezialinteresse zu erkennen, sollte nicht im Fokus stehen, um welches Thema es sich handelt, sondern wie sich Personen damit beschäftigen. Menschen mit Autismus beschäftigen sich häufig intensiv und über einen langen Zeitraum mit ihrem Thema, wissen oft jedes Detail dazu, sammeln und ordnen Informationen und sprechen gern und ausführlich darüber.
Fazit – Besseres Verständnis, frühere Diagnose
Autismus bei Frauen und Mädchen wird immer noch häufig übersehen oder erst spät erkannt. Sie entsprechen oft nicht dem stereotypen Bild, das durch die jahrzehntelange männlich fokussierte Forschung geprägt wurde. Mit undiagnostiziertem Autismus zu leben hat negative Auswirkungen auf die Psyche und die Entwicklungsmöglichkeiten der Betroffenen. Es ist daher dringend notwendig das Verständnis von Autismus bei Frauen zu erhöhen, um ihnen die notwendige Unterstützung zu bieten, ihre individuellen Potenziale zu entfalten. Dafür sind mehr Forschung zu autistischen Mädchen und Frauen sowie eine erhöhte Sensibilisierung von Pädagogen und Gesundheitspersonal erforderlich. Es bleibt zu hoffen, dass Autismus bei Mädchen und Frauen in Zukunft früher erkannt wird und sie die notwendige Unterstützung erhalten, um ein erfülltes Leben zu führen.
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Quellen